Port Lligat: In der Heimatbucht des Surrealismus
War er ein Genie? Oder doch nur ein Gaukler? Über zehn Jahre nach dem Tod Salvador Dalis ist die Anziehungskraft des Künstlers so groß wie nie. Hunderttausende pilgern jährlich zu seinen Hinterlassenschaften an der Costa Brava. Aber finden sie auch eine Antwort?
Nördlich von Port Lligat stürzen sich die Pyrenäen nackt und braun in die blaue Weite des Mittelmeers. Kap Kreus heißt der zerrissene Zipfel, in dessen schmalen Buchten heute kleine Segelyachten vor Anker liegen. Orte der Stille, an denen schon die antiken Seefahrer Schutz vor dem Tramontana, dem harten Fallwind der Costa Brava, fanden.
An heißen Sommernachmittagen konnte man hier früher einen Mann treffen, den die Felsen dieser Buchten sein Leben lang faszinierten. Für ihn waren sie ”die schönste Landschaft der Welt”, und er malte sie immer und immer wieder. Mit diesen Bildern, in die er die Eindrücke seiner verrückten Kindheit, seine ausufernden Alpträume und die Symbole seiner abgrundtiefen Phantasie hineinflocht, beeinflusste er das visuelle Bewusstsein des vergangenen Jahrhunderts wie kaum ein anderer: Salvador Dali. Auch wer nicht viel über ihn wusste, erkannte ihn an dem hochgezwirbelten Schnauzbart, einem jahrzehntelang durch die Titelseiten geisternden Markenzeichen, dass er sich bereits in seiner Jugend geschaffen hatte. Damals, in den zwanziger Jahre, als er sich mit Fernando Garcia Llorca und Luis Bunuel die Zimmer der Residencia, einer extravaganten Madrider Eliteschule, teilte. Auch Llorca, der im Bürgerkrieg ermorderte Nationaldichter Spaniens, und Bunuel, einer der einflussreichsten Filmemacher des 20. Jahrhunderts, genossen die Abgeschiedenheit dieser, wie Dali ständig sagte, ”mineralischen” Landschaft.
Und nach ihnen sollten noch viele andere kommen. Paul Elouard, der französische Dichter, Walt Disney, der Filmproduzent, oder Juan Carlos, als er noch der Prinz im Schatten Francos war. Die Welt pilgerte nach Port Lligat, einer kleinen, verträumten Bucht des anmutigen Fischerdorfes Cadaques, um dem König der gemalten Alpträume, dem Schöpfer der zerfließenden Uhren, dem Gott der Exzentriker seine Aufwartung zu machen.
Und sie tut es heute wieder. Jeden morgen gegen neun Uhr versammeln sich Menschen in T-Shirts und kurzen Hosen auf dem Pflaster am Strand von Port Lligat. Es ist aus schwarzem Feuerstein zusammengesetzt, und von weitem betrachtet hat es die Form eines gestrandeten Wals. Jenes verendeten Wals, den Dali in seiner Kindheit am Strand von Port de la Selva sah, und dessen amorphe Gestalt in einige seiner berühmtesten Bilder einfloss.
Eine freundliche junge Frau in Uniform erklärt diesen Zusammenhang gerne auf Spanisch, Katalanisch, Französisch, Englisch und zur Not auch gebrochen auf Deutsch. Wenn man sie danach fragt. Den meisten Besuchern von Dalis Haus, dem seit 1997 geöffneten Casa Museu Dali, muss sie jedoch erläutern, warum sie vielleicht erst morgen in das Schlafzimmer des Künstlers dürfen. Denn während sie über Walkie Talkie der Kollegin die nächste Gruppe avisiert, wird klar, dass der Zugang zum privaten Reich des toten Malers limitiert ist. Nur zehn Personen alle zehn Minuten werden die Treppe hinaufgeführt. Bis zu 500 Besucher werden auf diese Weise täglich durch die labyrinthische Architektur des Dali-Anwesens geschleust. Wer nicht alleine unterwegs ist und nicht schon telefonisch reserviert hat, kann in der touristischen Hauptsaison mit mindestens mehrstündigen Wartezeiten rechnen.
Bereits im ersten Raum wird jeder Besucher mit der schier grenzenlosen Exzentrik des Meisters konfontiert. Ein lebensgroßer, zähnefletschender Bär empfängt die Eindringlinge wie schon zu den Zeiten, als hier noch Dali und Ehefrau Gala ihre berühmten Gäste empfingen oder ihre nicht minder berühmten Hippie-Orgien inszenierten.
Spätestens seit dieser Zeit, Ende der Sechziger, als sich Aussteiger aus der ganzen Welt um den kleinen Brunnen vor Dalis Haus versammelten, sind Cadaques und Port Lligat Legende. Die Bucht von Port Lligat ist sogar ein nationales Kulturgut Spaniens. Nicht nur, weil Dali hier aus ein paar armseligen Fischerhütten seine private Festung errichtete, sondern auch, weil er Diktator Franco dazu bringen konnte, dieses so zu bestimmen. Und tatsächlich hat das touristische Wachstum des einstmals völlig isolierten Cadaques die Bucht einfach übersprungen.
Und so finden Besucher auch heute noch jene typischen Landschaftselemente, die in Dalis Bildern immer und immer wieder auftauchen, und die für ihn ein mindestens so prägnantes Symbol waren wie der Schnauzbart. “Man malt sein Leben lang immer nur dasselbe Bild, in verschiedenen Varianten”, hat Dali gesagt. Und Port Lligat hat fast alles, was der Maler Zeit seines Lebens an Landschaft in seine Visionen und Alpträume integriert hat.
Da ist der Felsen am Ausgang der Bucht, der aussieht wie ein schwimmender Drache. Da ist die kleine Mühle auf der Kuppe der kleinen Landzunge. Da ist der Blick auf die Felsen von Cap Kreus, in deren Buchten er die Nachmittage verbrachte. Und da ist das Licht, dass sich in seinen Gemälden spiegelt.
Auch über zehn Jahre nach seinem Tod schwebt der Geist des großen Genies Salvador Dali über den Buchten und Bergen der Costa Brava. Zumindest über Port Lligat. Wer den Gaukler Dali spannender findet, braucht nur den Anweisungen der freundlichen Frau am Eingang seines Hauses zu folgen.