Kerneuropa II

Richard Rorty, der amerikanische Philosoph der Gegenwart, hat in der Süddeutschen um Beistand gegen die Regierung seines Landes gebeten und für eine neue Einigkeit Europas plädiert. Ein Ausschnitt:

Die Europäische Union – so wie sie ist, sogar schon vor der Ratifizierung einer gemeinsamen Verfassung – ist bereits die Umsetzung dessen, was die Realpolitiker für eine müßige Fantasie hielten. Wenn das Bewusstsein, Bürger eines europäischen Gesamtstaates zu sein, im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts ebenso tiefe Wurzeln schlägt, wie es im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts das Bewusstsein von Amerikas Bürgern tat, wird sich die Welt auf gutem Wege zu einer globalen Föderation befinden. Eine solche Föderation hat man seit Hiroshima als einzige langfristige Lösung des Problems erkannt, das Atomwaffen erzeugen.
Ich würde Rorty zustimmen. Allerdings sehe ich keinen Grund, warum die Bürger Europas ein gemeinsames Bewusstsein ausbilden sollten. Im 18. Jahrhundert sind die Menschen aus den feudalen und klerikalen Fesseln Europas geflüchtet, um in Amerika Freiheit und Selbstverwirklichung zu entdecken. Etwas Ähnliches gibt es heute in Europa nicht. Im Gegenteil. Europa ist ein bürokratisches Monstrum, mehr nicht. Wer heute Freiheit und Selbstverwirklichung - vor allem im ursprünglichen Sinn bürgerlicher Wirtschaftsfreiheit - sucht, wandert immer noch in die USA aus. Denn anders als die europäischen Staaten haben es die USA verstanden, nicht nur wirtschaftlich innovativ und militärisch mächtig, sondern vor allem kulturell und gesellschaftlich enorm flexibel und attraktiv zu bleiben. Wenn Europa in der Welt eine Rolle spielen will, muss es bei sich selbst anfangen. So, wie sich die einzelnen Staaten und ihr größtenteils absurder Überbau heute präsentieren, können sie allenfalls noch für ein paar weltfremde Philosophen wie Habermas und Derrida als leuchtendes Beispiel herhalten. Der Rest der Welt ist schon längst dabei, Europa abzuschreiben. Zu Recht, wie ich finde.